Wilde Eisfälle und abenteuerliche Überschreitungen
Simon Wahli und ich starteten unseren Dolomitenausflug am 10. Februar 2022. Es war tiefster Winter und die Gebirgsketten der Dolomiten waren von Schnee bedeckt, die Wasserläufe gefroren und die beeindruckenden Eisgebilde liessen unsere Herzen sofort höherschlagen. Entsprechend bekletterten wir als erstes die vereisten Spielwiesen zusammen. Die Mixed-Routen Zauberflöte (M9, WI6) im Langental, die Via Snowboard am Piz Pordoi (M4, WI5) oder die Crazy Diamond im Reintal (M8+, WI5+) waren besonders eindrücklich. Doch nach rund 10 verschiedenen Eis- und Mixed-Routen befassten wir uns mit einem ganz anderen Projekt: Der Überschreitung der Drei Zinnen.
Wir hatten zuvor mit Simon Gietl über dieses Vorhaben Informationen ausgetauscht. Er hatte die Tour im Winter schon dreimal gemacht: Einmal mit Michi Wohlleben, dann mit Roger Schäli und schliesslich im Alleingang. Er war jeweils von West nach Ost geklettert und hatte sie uns auch so empfohlen. Wir überlegten uns in der Vorbereitung, dass die Variante Ost-West auch eine gute Möglichkeit wäre, und zwar um die kurzen Tage und die Sonneneinstrahlung optimal zu nutzen. Und so studierten wir eingehend die Wände mit dem Feldstecher, Webcams und allerlei verfügbare Informationen zu Temperatur und Bedingungen. Als Base camp diente uns der Schutzraum der unbewarteten und ungemütlich kalten Aronzohütte.
Am 20. Februar um 06.00 standen Simon und ich mit Stirnlampe und klammen Fingern am Einstieg der berühmten Gelben Kante oder „Spigolo Giallo“ der Kleinen Zinne. Nach den schwierigen Kletterpartien wechselten wir auf die Bergschuhe und standen um 08.00 bereits auf dem Gipfel der Kleinen Zinne. Und hier stellten wir fest, dass Webcams und Feldstecher nur bedingt verraten, wieviel Schnee tatsächlich auf den Bändern liegt. Teilweise versanken wir beim Queren der Bänder hüfthoch im weissen Pulver. Wir liessen uns nicht aus der Ruhe bringen und versuchten, möglichst effizient und ohne viel Höhe zu verlieren einen möglichst horizontalen Weg zur Grossen Zinne zu finden. Wir hatten als Ausrüstung einen Eispickel dabei, was uns immer wieder gute Dienste erwies. Die Querungen erforderten einen guten Spürsinn und gutes Teamwork, weil man den sicheren Weg durch das Labyrinth von Felsen, Schnee und Eis selbst finden musste.
Um 9.30 schliesslich konnten wir die Grosse Zinne über die Dibona-Kante in Angriff nehmen und waren um 11.15 auf dem Gipfel. Die Aussicht genossen wir nicht sehr lange, da sich der Abstieg in die Scharte zwischen der Grossen Zinne und der Westzinne als besonders verzwickt herausstellte. Auch hier erschwerte Schnee und Eis ein sicheres Vorwärtskommen. Wir nahmen uns Zeit, alle Optionen durchzugehen, inklusive Rückzug. Gemeinsam entschieden wir uns schliesslich weiterzuklettern.
Ich hatte den Abstieg von der Grossen Zinne bereits einmal gemacht und versuchte mich, mehr oder weniger an den Verlauf zu erinnern. Und so standen wir um 13.15 am Fuss der Westzinne, vor uns ein besonders unfreundlich aussehendes Couloir voll Eis und Schnee. Ich benötigte eine volle Stunde, um diese heikle Seillänge hochzuklettern, zumal ich fast keine Sicherungen anbringen konnte.
Danach ging es wieder weiter im Klettermodus auf die Westzinne. Der Plan war über die Demuth Kante auf den Gipfel zu kommen. Doch wir folgten schliesslich den Bohrhaken der Route „Petri Heil“ (8-), die geschickt durch die Dächerzone und rechts der Demuth Kante bis zum oberen Band führt. Diese Variante erwies sich als gute Alternative, da sie steiler und somit weniger schneebedeckt war. Von hier ging es dann wieder auf der klassischen Variante zur Cima Ovest. Es war 16.56, die Sonne war schon lange weg und meine Füsse waren taub bis zum Knie. Wir entschieden uns, über eine Schneerinne abzusteigen und waren um 18.25 wieder auf dem Hüttenweg. Von hier waren es nochmals 7km bis zum Auto. Mittlerweile fingen unsere Füsse an zu brennen und wir sehnten uns nur noch nach einer grossen Pizza und einem Schluck Lagrein, was wir uns um 23.00 im Hotel Antholz gönnten. Erst dann konnten wir dieses eindrückliche Erlebnis verarbeiten. Es hatte unser ganzes alpinistisches Können gefordert: die Kälte, die Wegfindung, das Eis und der Schnee, die Schwierigkeiten im Felsen, das Improvisieren, die Entscheidungsfindung, die Verantwortung für den Kletterpartner. Sie bleibt uns beiden als eine der wichtigsten und lehrreichsten Erfahrung in Erinnerung.