Dem Drachen begegnen und mit ihm lernen zu fliegen
Ich hatte schon lange mit Interesse und Neugier die Berichte über die Wendenroute „Portami Via“ gelesen. 2005 wurde sie von den Italienern Matteo della Bordella, Fabio Palma und Domenico Soldarini unter sehr abenteuerlichen Bedingungen eröffnet. Sie berichteten von zwei furchteinflössenden Wasserfällen, die sich bei schlechtem Wetter links und rechts der Route bilden würden. Da war auch der Sturz von Matteo in der 5. Seillänge erwähnt, weil die Absicherung so spärlich war und der Fels so kompakt ist, dass Keile und Friends sich nicht setzen lassen. Es hiess damals, dass er nach dem Sturz eine längere Kletterpause einlegen musste.
Ich fand den Namen so schön und ästhetisch wie die Linie, die sich am Pfeiler der „Strada del Sole“ emporhob. Später erfuhr ich, dass das eine Art Liebeserklärung einer Frau an einen Mann war. Wörtlich übersetzt heisst es „Bring mich fort von hier“. Irgendwie deutete es an, dass es wohl kein Zurück mehr gibt nach einer solchen Bekennung.
Und so stieg ich zum ersten Mal im Jahr 2016 zum Einstieg hoch, merkte aber, dass ich mental noch nicht so weit war.
Die Saison 2019 fühlte sich ganz anders an. Ich hatte schon zahlreiche alpine Klettertouren gemacht. Ich hatte nach wie vor Respekt vor der berühmten 5. Seillänge: Eine 40m lange 7c+ Länge, die sich parallel zu einem Pfeiler die Wand hochschlängelte, wie die Flamme eines Drachen. Man durfte auf keinen Fall stürzen in dieser Seillänge.
Ich fragte Mario Heller an, den ich von der Kletterszene aber noch nicht als Seilpartner kannte, ob er mich auf dem Kreuzzug begleiten würde. Er war sofort begeistert. Trotz grosser Motivation blieben wir realistisch. Wir vereinbarten, dass wir erst am Einstieg entscheiden würden ob klettern oder nicht. Wetter gut, Stimmung gut und so ging es los in die erste Seillänge.
Mario stieg die ersten beiden Seillängen vor. Dabei bekamen wir einen guten Einblick in die Absicherung. Wir fanden die Längen sportlich, aber gut abgesichert. Dann übernahm ich in der ersten 7c+ und war überrascht, wie sich der Stil geändert hatte. Es forderte mich mental und physisch so sehr, dass ich keine Chance auf ein Onsight hatte. Im zweiten Versuch aber schaffte ich sie frei zu klettern und plötzlich fühlte ich mich besser und kam sogar in einen Flow-Zustand. Die 6c-Länge vor dem Band kostete uns ein wenig Zeit, weil wir viel selbst absichern mussten. Ausserdem war es eine Traverse, die im Nachstieg fast mehr Konzentration erforderte als im Vorstieg. Auf dem Band angekommen gönnten wir uns eine Mittagspause und genossen das Ambiente in den Wendenstöcken.
Nach der Pause ging es dann in die zweite und eigentliche Schlüssellänge. Mir war schnell klar, dass ich in diesem gnadenlos plattigen Gelände und der spärlichen Absicherung keinen zweiten Versuch machen wollte. Es galt, 40 Meter mit nur 4 Bohrhaken zu bewältigen, die parallel zu einem Pfeiler verliefen. Thommy Caldwell hatte diese Seillänge als die furchteinflössendste in seinem Leben bezeichnet.
Die Analogie zum Drachen kommt, weil man zu machtlos ist, es zu bekämpfen. Also muss man lernen mit ihm zu fliegen. Meine Strategie war, mich von einer sicheren Insel zur nächsten zu bewegen. Es forderte mein ganzes Können, meine Selbsteinschätzung, meine Kraft und Ausdauer. Es blieb mir fast nichts anderes übrig, als die Länge onsight zu klettern. Ein Sturz wäre mit einem Aufprall auf den Pfeiler geendet und so war ich überglücklich, als ich nach 45 Minuten am Stand ankam. Im Rückblick würde ich die Kletterei von den Bewegungen her als sicher, aber unübersichtlich beschreiben. Matteo erschloss in den Wenden so, dass er jeweils an Ruhepositionen bohren konnte. Die Schlüsselstelle befindet sich in der Regel ca. 5m oberhalb des letzten Hakens. Für mich als Wiederholer, der auch in einem solchen Stil erschliesst, war das sehr angenehm. Ich bin sehr dankbar, dass sie der Ethik des Erschliessens in diesem Gebiet Sorge getragen haben.
Im Gipfelbuch war ein poetischer Text von Fabio Palma, der mir sehr gut gefallen hat. Auf Deutsch übersetzt geht er so:
Portami Via (Bring mich fort von hier)
Dieser Pfeiler schien den Himmel zu durchbohren, aber eigentlich schau mal, wie weit weg wir noch sind. Und doch, können wir ihn besser umarmen. Vielleicht weil wir lieber die Gruppe verlassen, im Freien leben und mit Hosen klettern, die vom unachtsamen Verlauf unserer zugespitzten Tage Löcher haben.
Aber war es dieser Pfeiler oder eine Frau, die uns gesagt hat „bring mich fort von hier“? Wir haben es gewagt, und wenn wir lieben, tun wir es wie beim Klettern – frei – dem Verstand haben wir das Herz vorgezogen und als wir gefallen sind, haben wir nochmals von unten begonnen, aber um es dann endlich zu schaffen.
Und Euch, die in unserem Traum hochgestiegen seid, vertraue ich an, dass mich dieser Pfeiler tatsächlich von hier weggebracht hat. Das wahre Herz schlägt frei.