Intuition und Fingerspitzengefühl
2020 war wohl für uns alle ein spezielles Jahr mit Rückschlägen aber auch mit neuen Möglichkeiten. Mit meinen Projekten war es nicht anders.
Ich und Jonas Schild hatten uns erst ein Projekt am Eiger vorgenommen, und zwar die „Odyssee“. Aber das Wetter war nicht genug stabil, um ein solches Unterfangen überhaupt zu probieren. Also suchten wir nach Alternativen. Jonas kam mit der Idee, die „Headless Children“ an der Schijenfluh im Rätikon zu probieren. Die Ästhetik der Wand und der Linie begeisterten mich sofort: Die Route zieht sich durch eine gelblich gefärbte kompakte Felswand. 260 Klettermeter mit einem 8a+ Dach in der 7. Seillänge. Die Route wurde von Marco Müller, Koni Mathis, Bruno Rüdisser in den Jahren 1997-1999 eingerichtet. Die Route ist nach einem Song der Metalband W.A.S.P. genannt. Ein etwas düsterer Song, der nach Befreiung schreit und durch Mark und Bein geht.
Obwohl mich die Strukturen und Herausforderungen der Wand sofort gefielen, hatte ich Respekt. Ich wusste, die Route hatte bis anhin nur sehr wenig Wiederholungen, unter anderem von Kilian Fischhuber, der sie free solo geklettert hatte, und später von Nina Caprez.
Wie es manchmal der Zufall will, hatten wir mit dem Ferienhaus von Jonas‘ Freundin ein praktisches Basecamp in der Nähe unseres Projektes. Also schauten wir uns die Route mal an und checkten alle Seillängen bis zum berühmten Dach in der 7. Seillänge aus. Wir dachten, dass der Rest gehen sollte, denn gemäss Topo waren die Schwierigkeiten nicht mehr als eine 7a-Länge. Um kraftsparend zu klettern liessen wir auch ein paar Exen hängen.
Am Ruhetag erfuhren wir, dass Nico Favresse und Sébastien Berthé mit ihren Fahrrädern Richtung Rätikon unterwegs waren. Der Zufall wollte es, dass sie auch die Route „Headless Children“ ins Auge gefasst hatten. Sie hatten sogar einen Fotografen dabei, weil sie ebenfalls von der Schönheit der Wand begeistert waren. Also sprachen wir uns mit ihnen ab und erklärten ihnen, dass wir bereits ein paar Exen eingehängt und ein paar Markierungen angebracht hatten. Sie freuten sich darüber und erklärten uns, dass sie sehr früh starten wollten. Also entschieden wir uns, etwas später einzusteigen.
Jonas und ich kletterten die ganze Route sturzfrei und freuten uns über die Gesellschaft am Felsen. Wir waren alle sehr motiviert und der Fotograf machte ein paar spektakuläre Aufnahmen von uns. Trotzdem kam doch noch eine unerwartete Überraschung auf uns zu. Obwohl die Länge nach dem Dach mit 7a bewertet war, musste ich alles geben, um nicht rauszufliegen. Der Fels war nicht mehr gelb und scharf, sondern grau, plattig und schwierig zum Entschlüsseln. Ich fand sie im Verhältnis zu den anderen Längen hart bewertet und freute mich, als ich sturzfrei am Stand ankam. Ich schaute mir nach dem Gelingen die Felswand nochmals and und ging gedanklich durch die Route. Ein wahrhafter Traumfels, der – wie es wohl der Song inspirierte – nach Befreiung schreite und mit viel Intuition und Fingerspitzengefühl geklettert werden wollte.