Im Yosemite in 15 Minuten statt 15 Stunden
Klettergeschichte wird nicht nur an den grossen Bergen wie am Eiger geschrieben. Im Gegenteil, manchmal sind es kleine fast unscheinbare Gebiete, die den Weg bahnen für neue Stile oder Techniken.
So ist es auch mit der Handegg, eine kleine Ortschaft in Guttannen, die in der Schweiz fast symbolisch für eine neue Ethik im Klettern steht. Die Route „Fair Hands Line“ wurde 1978 vom legendären Jürg von Känel zusammen mit Martin Stettler eingerichtet. Sie wollten damit den Freiklettergedanken in die Schweiz bringen, den sie in ihren zahlreichen Besuchen im Yosemite kennengelernt hatten. Tatsächlich erinnern die perfekten Linien, Risse, Dächer und Platten der Handegg ans legendäre Klettergebiet in Kalifornien. So ist es nicht erstaunlich, dass in der Nähe eine zweite Route eingerichtet wurde mit dem wohlklingenden Namen „El Cap Feelings“. Sie folgt zwar den ersten Seillängen der Route „Arnold-Aegerter Gedächtnisweg“, aber wie es der Name sagt, kamen bei den Erschliessern durch die Felsstrukturen andere Gefühle und andere Erinnerungen hoch.
Als 14-Jähriger hatte ich einen Notebook bekommen und als erstes schaute ich mir alle Topos auf der Internetseite des Filidor-Verlages an. Und da stiess ich auf die von Hand gemalten Seillängen der „El Cap Feelings“. Die Bewertungen waren mit Fragezeichen versehen und die Schwierigkeiten stiegen bis 7c/8a. Die Route war so schwer, dass sie noch keine Rotpunktbegehung aufweiste. Ich setzte sie unverzüglich auf meine Projektliste, zumal eine freie Begehung noch niemand erreicht hatte und wie es so ist, vergangen erst einmal ein paar Jahre.
2019 stattete ich ihr einen ersten Besuch ab mit meinem Kletterkollegen Nik Kohler. Ich konnte sie nicht frei klettern, zumal die Route durch die spärlichen Begehungen schmutzig war. Ein Jahr später kam ich mit Michelle zum Tatort zurück und biwakierte am Ausstieg. Am nächsten Morgen seilte wir uns über die Route ab und putzten jede Seillänge und liessen auch Fixseile drin. Ich schlief auf dem Portaledge, wie es im El Cap so dazugehört und fühlte mich richtig eingestimmt.
Am zweiten Tag studierte ich die einzelnen Sequenzen ein, musste mich aber wieder abseilen. Die Wärme, die engen Schuhe und die delikate Kletterei auf dem Granitpanzer hatten meinen Füssen arg zugesetzt.
Eine Woche später kehrte ich mit Nik zurück und arbeitete jede einzelne Seillänge ab inklusive der Schlüsselseillängen, die mittlerweile mit 7c und 8a+ bewertet sind.
Die 8a+ Seillänge ist ein beeindruckendes Dach, das zum Klettern intensiv und unbarmherzig ist, wenn man den Bewegungsablauf nicht auf Anhieb richtig ausführt. Ich kletterte die beiden Schlüsselseillängen sauber durch und wechselte mich für die restlichen Seillängen mit Nick ab. Die 8a+ gelang mir auf Anhieb, sodass ich noch genug Reserven für die 7b+ Platte hatte. Die gesamte Tour erforderte eine Vielfalt an Bewegungen und eine unglaubliche Körperspannung. Am Ende des Tages standen wir glücklich am Ausstieg und genossen nochmals die Stimmung und die Felsstrukturen, die mit dem grossen Dach tatsächlich ans El Cap erinnerten.
Es ist tatsächlich so, dass man manchmal nicht erst 15 Stunden im Flugzeug sitzen muss, um sich schöne Erlebnisse zu holen. Es geht auch in 15 Minuten.